Lese­pro­be


Aus­zug

Heu­te sind wir end­lich wie­derz­um Floh­markt gefah­ren. Mama summt vor sich hin, irgend­et­was Bra­si­lia­ni­sches oder Mexi­ka­ni­sches, du kennst sie ja. Wir schlen­dern an bun­ten Plas­tik­au­tos, Lego­flug­zeu­gen, Bar­bie­pup­pen und Stoff­tie­ren vor­bei. 
Heu­te ist ein guter Tag. Der bes­te seit Mona­ten. 
Mamas Locken wip­pen im Takt, ihr Schritt ist flott und feder­leicht. Am Mor­gen hat sie sich geschminkt und den flie­der­far­be­nen Woll­rock her­vor­ge­kramt. Danach ist sie in ihre magen­ta­far­be­nen Stie­fel geschlüpft – jene Din­ger, von denen du mal behaup­tet hast, dass sie in dei­nen Augen weh­tun. Sogar die Nägel hat sie sich lackiert. Als hät­te jemand die Zeit zurück­ge­dreht. Als wäre es plötz­lich wie­der das Nor­mals­te, die Nägel zu lackie­ren, magen­ta­far­be­ne Stie­fel zu tra­gen und flot­te Samba­me­lo­dien zu träl­lern.
Wir zie­hen den Bauch ein, die Schul­tern und den Po, machen uns flach und schie­ben uns an einer Fami­lie mit drei Kin­dern, Lauf­rad und Tret­rol­ler vor­bei. Die Luft riecht nach fau­lem Herbst­laub, Ket­chup und Würst­chen. Mir geht es so gut wie schon lan­ge nicht mehr. Sogar der Zot­tel­kö­ter, der in mei­nem Magen wohnt, ist heu­te weg. Auf dem Weg zur Schnell­bahn­sta­ti­on ist er ein­fach aus mir raus­ge­hüpft, über die Wie­se gesprun­gen und im Gebüsch ver­schwun­den. Ich glau­be, er mag kei­ne Floh­märk­te. Der Köter fährt nun mal auf Trä­nen ab, und die kriegt er hier nicht.
Wir schlen­dern an einer Klei­der­stan­ge mit aus­ge­mus­ter­ten Faschings­kos­tü­men vor­bei. Ein klei­ner Jun­ge bet­telt um das Spi­der­m­an­kos­tüm, »bit­te, bit­te, bit­te!«, schreit er und sieht sei­ne Mut­ter so lan­ge aus gro­ßen, blau­en Kul­ler­au­gen an.
In ein paar Tagen ist Hal­lo­ween. Bald wird der Nebel über unse­rer Stadt hän­gen und alles mit sei­nem mil­chig-wei­ßen Dunst ein­hül­len. Heu­te aber ist es unge­wöhn­lich son­nig und warm, fast wie im Som­mer.
Ich schlüp­fe aus mei­nem Hoo­die und bin­de ihn um den Bauch. Auch Mama hat ihre Jacke aus­ge­zo­gen. Sie trägt das gel­be Lang­arm­shirt mit der Kat­ze vor­ne drauf. Ihr Köper ver­strömt einen Duft wie ein Strauß frisch gepflück­ter Mai­glöck­chen. Ich zie­he ihr Par­fum tief in mei­ne Bron­chi­en und lege den Kopf in den Nacken. Der Him­mel trägt ein sat­tes Blau, dar­in steht ein ein­zel­nes Schaf und glotzt doof zu uns run­ter.
»Schau mal das fet­te Schaf dort oben!«, sage ich und ste­che mit dem Zei­ge­fin­ger in die Luft. »Das sieht genau­so aus wie in dem Bil­der­buch, das ich mal hat­te, fin­dest du nicht?«
Das haben wir frü­her oft gemacht. Du, Mama und ich. Wir haben ein­an­der die Wol­ken gezeigt und ver­ra­ten, was wir sehen. 
Mama folgt mei­nem Blick. Das Wol­ken­schaf hat ein Loch­au­ge und einen sichel­mond­för­mi­gen Lach­mund.
»Mä-äh!«, blökt sie, dann beschleu­nigt sie ihren Schritt und steu­ert einen Tisch mit altem Geschirr an, wo sie ihren Blick über die Kris­tall­glä­ser und Por­zel­lan­tel­ler wan­dern lässt, bis er schließ­lich an einer Tas­se mit blau­en Blüm­chen und wel­len­för­mi­gem Gold­rand kle­ben bleibt. Sie hebt die Tas­se hoch und dreht sie ein paar Mal in ihren Hän­den. Ihre Fin­ger­nä­gel leuch­ten zwi­schen den Ver­giss­mein­nicht wie Rosen­knos­pen in einem ver­wil­der­ten Gar­ten.
»Ist die nicht wun­der­schön?«
Wun­der­wun­der­schön, den­ke ich. Genau wie Mamas Lächeln. Den­noch sage ich nichts, son­dern nicke nur stumm und sehe sie von der Sei­te her an: die fei­nen Här­chen auf ihren Wan­gen, den Sil­ber­ohr­ring mit dem ein­ge­fass­ten Bern­stein, der zwi­schen ihren hasel­nuss­brau­nen Locken her­vor blin­zelt, die fei­nen Fält­chen in ihren Augen­win­keln, in denen heu­te blau­er Lid­schat­ten glit­zert. 
Wun­der­wun­der­schön, singt es in mei­nem Kopf.
Das fin­det auch der Ver­käu­fer, der jetzt zu uns tritt. Sei­ne Pupil­len ver­ha­ken sich in Mamas Som­mer­spros­sen. Mit der Glat­ze und dem Schnurr­bart, der ihm seit­lich bei­na­he bis zum Kinn reicht, erin­nert er mich an ein Wal­ross aus einem Zei­chen­trick­film.
»Ich gebe ihnen das kom­plet­te Set für acht­zehn«, schlägt er vor und sieht Mama erwar­tungs­voll an.
Sie hält in der Bewe­gung inne und spitzt die Lip­pen. »Darf man die Tas­sen auch ein­zeln kau­fen?«
»Ein­zeln?« Das Wal­ross kratzt sich scho­ckiert die Glat­ze. »Hm. Nun ja. Ein Kaf­fee­set mit nur drei Tas­sen wird nie­mand mehr haben wol­len.«
In der Vitri­ne neben unse­rem Küchen­fens­ter ste­hen drei­und­zwan­zig ver­schie­de­ne Tas­sen, vier Milch­känn­chen und drei Zucker­do­sen. Die meis­ten haben wir aus dem Urlaub mit­ge­bracht – aus Por­tu­gal, Ita­li­en, Mexi­ko und Kroa­ti­en. Floh­märk­te gibt über­all auf der Welt, und auf jedem Floh­markt gibt es altes Kaf­fee­ge­schirr. Mama liebt Geschirr mit Geschich­te. Die Idee, aus Tas­sen zu trin­ken, die mal einer rei­chen Salon­da­me, einem berühm­ten Maler oder ein­fach nur einer schrul­li­gen alten Latein­leh­re­rin gehört haben, gefällt ihr. Zu jeder Tas­se in unse­rer Vitri­ne gibt es eine eige­ne Erzäh­lung, die sie sich in ihrem wun­der­ba­ren Hirn zusam­men­ge­spon­nen hat.
»Ich ver­steh ein­fach nicht, war­um sich so vie­le die­ses lang­wei­li­ge Möbel­haus-Geschirr kau­fen«, sag­te sie mal. 
Mama hasst alles, was aus dem Möbel­haus kommt. In unse­rer Woh­nung gibt es so gut wie nichts Neu­es. Wenn Mama Möbel kau­fen will, treibt sie sich wochen­lang im Inter­net rum, dort gibt es näm­lich tau­send schö­ne Ein­zel­stü­cke »mit Geschich­te«. Nie wür­de sie sich ein Kal­lax-Regal kau­fen. Oder ein Malm-Bett. Oder einen Hem­nes-Schreib­tisch. In Mamas Augen ist Ikea eine der schreck­lichs­ten Erfin­dun­gen des aus­ge­hen­den 20. Jahr­hun­derts. Noch schreck­li­cher als Ikea-Geschirr, Ikea-Möbel, Ikea-Tep­pi­che, Ikea-Pflan­zen und Ikea-Bil­der fin­det Mama das Essen bei Ikea. 
»Bäh! Das schmeckt doch wie Papp­kar­ton!« 
Nur du und ich, wir sind trotz­dem hin­ge­gan­gen. Heim­lich. Weil wir die labb­ri­gen Hot­dogs dort so moch­ten. Dabei warst du der bes­te Koch, den ich kann­te. Aber du hat­test die­se klit­ze­klei­ne Schwä­che für Ikea-Hot­dogs. 
»Irgend­ein Las­ter braucht jeder« mein­test du, und dass ich Mama nichts ver­ra­ten soll. 


© Mar­ga­ri­ta Kinst­ner, 2021.
Ver­tre­ten durch die AVA Inter­na­tio­nal, Mün­chen.

Kurz­be­schrei­bung

Die fünf­zehn­jäh­ri­ge Ame­lie hat ihren Stief­va­ter Ste­fan durch einen Unfall ver­lo­ren. Da ihre Mut­ter in einer tie­fen Depres­si­on steckt und sich um nichts mehr küm­mert, ist Ame­lie für den Haus­halt und die gute Lau­ne ver­ant­wort­lich. Ihrer bes­ten Freun­din Seli­na kann sich Ame­lie nicht mit­tei­len, denn sie hat Angst, dass Seli­na ihre schlech­te Lau­ne satt hat. Also spielt sie allen etwas vor – selbst ihrer The­ra­peu­tin.
Erst als Ame­lie beim Foto­gra­fie­ren in ein ver­meint­lich leer ste­hen­des Haus ein­bricht und den Außen­sei­ter Theo ken­nen­lernt, beginnt sie sich zu öff­nen. Denn The­os Haus ist wie ein Leo – hier darf sie end­lich mie­se Lau­ne haben und muss nicht gefal­len. Doch dann taucht plötz­lich coo­ler The­os Nef­fe Tim auf – und die­ser nervt ein­fach nur!